Filmplakat Wer die Nachtigall stört

9,5/10

"Das hat er schon gesagt als er noch nicht sprechen konnte." — Wer die Nachtigall stört, 1962

Wer die Nachtigall stört

Besprechung

Die Welt darbt während der Weltwirtschaftskrise. Auch in der kleinen Südstaaten-Stadt Maycomb, Alabama, sind die Menschen davon betroffen. Der Rechtsanwalt Atticus Finch (Gregory Peck) ist ein alleinerziehender Vater. Neben dem 10-jährigen Jem (Phillip Alford) hat Atticus noch auf die 6-jährige Jean Louise „Scout“ Finch (Mary Badham) aufzupassen. Für die beiden Kinder, die ihn nur mit dem Vornamen anreden, ist Atticus der moralische Kompass.

Eines Tages steht Richter Taylor (Paul Fix) bei Atticus auf der Veranda. Er bittet ihn die Verteidigung von Tom Robinson (Brock Peters) zu übernehmen. Das ist kein leichter Fall und Atticus wird sich auch viele Feinde machen, wenn er den Farbigen vertritt. Ohne zu überlegen nimmt Atticus die Aufgabe an. Robinson wird angeklagt die weiße Mayella Violet Ewell (Collin Wilcox Paxton) vergewaltigt zu haben. Dass Atticus den Fall übernimmt, nimmt ihm vor allem Mayellas Vater Bob Ewell (James Anderson) übel.

Die Vorverhandlungen und Untersuchungen dauern ein Jahr. Derweil lernen die beiden Kinder wichtige Lektionen in Sachen Moral und Toleranz. Da ist zum Beispiel das unheimliche Haus die Straße runter. Dort wohnt der böseste Mann der Stadt, Nathan Radley (Richard Hale), der ein Monster zum Sohn haben soll und den er nur nachts heraus lässt. Boo, so sein Name, ist für Jem, Scout und den Sommergast Dill Harris (John Megna) von großem Interesse.

Meinung von

Okay, eines vor weg: Ich ging davon aus, dass Wer die Nachtigall stört ein knallhartes Gerichtsdrama ist, das seiner Zeit voraus war. Es geht in Harper Lees Romanvorlage gar nicht von Seite Eins bis zum Ende um den Gerichtsfall. Etwas über eine Stunde beobachten wir eigentlich nur Scout und Jem. Eine erwachsene Scout erzählt die Geschichte aus dem Off.

Die Geschichte handelt von dem Leben der Kinder in einer Kleinstadt im Süden der USA. In einer Zeit, als es allen schlecht ging, finden die Kinder dennoch immer etwas Spannendes in der Welt. Scout, die schon lesen kann, hat ihren ersten Schultag. Dabei prügelt sie den jungen Walter Cunningham Jr. (Steve Condit). Sie weiß, dass Walter aus einem armen Elternhaus kommt. Sie missinterpretiert eine Information und schon schlägt sie den Jungen grün und blau. Jem ist schon älter und erkennt den Fehler seiner Schwester. Walter wird zu den Finch zum Essen eingeladen. Hier benimmt sich Scout erneut daneben. Die farbige Haushilfe Calpurnia (Estelle Evans) ist es, die Scout die Leviten liest.

Das zeigt, wie fortschrittlich die Geschichte ist. Sie spielt im Jahre 1932 und Atticus hat eine farbige Haushälterin, die extrem viele Freiheiten hat. Sie darf sogar die Tochter ihres Chef belehren. Dadurch, dass die Kinder mit Calpurnia aufgewachsen sind, sind Farbige für sie ganz normale Menschen. Damals (und heute) herrschte in den Staaten, besonders im Süden, der Rassismus vor. Doch im Hause Finch gibt es den nicht.

In der Geschichte geht es um Toleranz Anderen gegenüber, darum, dass wir keine Vorurteile haben sollen. Wenn eine weiße Frau sagt, ein Schwarzer habe sie vergewaltigt – na, dann ist das doch nur logisch. Das glaubt jeder. Nicht nur ist es Atticus Job, den Angeklagten zu verteidigen. Er sieht es als seine Pflicht an, nicht-sehend zu sein und alles dafür zu tun, seinen Klienten von einer unbegründeten Strafe fernzuhalten.

Beinahe eine halbe Stunde geht die Szene im Gerichtssaal. Die Kinder wollen auch erfahren, warum die Stadt in heller Aufregung ist. Sie finden keinen Platz, deshalb gehen sie auf die Galerie, wo nur Schwarze sind. Den Kindern macht das nichts aus, den Menschen auf der Galerie ebenso wenig. Derweil wird unten vor dem Richter zum einen eine Hetzpredigt abgehalten und zum anderen eine brillante Verteidigung. Als das Urteil verkündet wird und Atticus den Saal verlässt, stehen alle Farbigen ihm zu Ehren auf. Das geht tierisch an die Nieren, was Regisseur Robert Mulligan und Gregory Peck da auf die Beine gestellt haben. Peck erhielt für seine Rolle des Atticus seinen einzigen Oscar.

James Anderson, der den Vater spielt, hat eine schwere Rolle. Er ist das Zentrum des Hasses. Und der Zuschauer hasst wiederum ihn. Anderson spielt so gut, manchmal denkt man, da stünde ein wildes Tier vor der Kamera.

Der Film zeichnet sich durch die warme Erzählweise aus. Es ist alles aus den Augen der Kinder erzählt. Die sind mit den beiden damals vollkommen unbekannten Kindern hervorragend besetzt. Wirklich, das hätte sowas von in die Hose gehen können, aber die Besetzung ist absolut famos. Mulligan erkannte schnell, dass es mit den Kindern keinen Sinn hatte, für eine Szene immer und immer wieder zu schauspielern. Er ließ stattdessen Alford und Badham einfach spielen, baute nebenbei die Kameras auf und hat sie mehr oder weniger mit der Szene überrascht.

Faszinierend an Wer die Nachtigall stört ist auch die Tatsache, dass Atticus kein Moralprediger ist. Er weiß, was rechtens ist und lebt das seinen Kindern vor. Hätte er die Verteidigung nicht angenommen, weil er Angst vor den hasserfüllten Blicken seiner Mitmenschen wäre, hätte sich Atticus nicht mehr im Spiegel betrachten können. Er lehrt den Kindern Recht, Anstand und Moral ganz nebenbei. Es gibt keine Lektionen, das Leben ist die Lektion. Atticus vermittelt zum Beispiel seinen Kindern, dass es nicht richtig ist, eine Waffe zu benutzen. Man kann eine besitzen, man kann gut darin sein, etwas zu treffen. Man darf aber nie die Gewalt der Waffe zum Spaß einsetzen. Das macht er am Beispiel der Nachtigall fest. Eine diebische Elster schießen ist in Ordnung, aber eine Nachtigall möchte nichts anderes, als singen. Die darf man nicht stören oder gar töten.

Das Buch ist in den Staaten ein absoluter Klassiker und er wird – man mag es nicht glauben – in deren Schulen gelesen. Leider sind die Lehren, die man aus dieser wunderbaren Geschichte und auch aus diesem hervorragenden Film ziehen kann, nicht unbedingt in allen Köpfen der Amis angekommen.

Der Film bewegt ungemein. Wenn Boo, das große Mysterium, am Ende doch noch auftaucht, kann kein Auge trocken bleiben! Wir sehen Robert Duvall in seiner ersten Rolle. Er sagt nichts, spielt aber mit unglaublich viel Seele. Das, was Boo macht, soll dann auch der größte Test für Atticus werden. Und er entscheidet sich richtig.

Anschauen!